Prolog aus Fantasy-Projekt   mit Arbeitstitel:

Der Fluch der Elfen


Nein, so wollte sie nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht an diesem Ort. Abermals versuchte sie, ihr linkes Bein aus der Umklammerung des Felsgesteins zu befreien. Vergeblich. Sie wollte schreien — doch aus ihrem Hals drang nur ein Krächzen. Es war der Laut eines Tieres und nicht mehr die Stimme eines Nachtelfen. Sie biss sich auf die trockene Lippe. Ihre Stirn pochte.

Wie lange schon steckte sie hier unten fest? In dieser göttinverdammten Felsspalte! Waren es Minuten? Stunden? Gar Tage?

Gwenyphilia wandte ihren Kopf nach oben — oder zumindest in die Richtung, von der sie annahm, dass sie nach oben führte. Hier und dort schien die Idee eines Lichtes zu schimmern, welches als unsichtbares Netz das Gestein überzog. Sonst war nur Finsternis. Etwas kitzelte ihr an der Nase. Fühlte sich an wie eine Feder… Sie nieste.

Wie war sie nur in dieses feuchte, modrige Loch geraten? Die weit entfernten Ränder ihrer Erinnerung spülten vereinzelt Bilder an — wie Treibgut. Ja… die Schiffe! Die Klippen! Die treibenden Toten…

Die Bilder lagen in Zwielicht getaucht. Dunkle Wolken zogen nun vor ihrem inneren Auge auf. Blitze durchzuckten eine schwarze Wolkendecke und entlockten ihr gigantische, formlose Skulpturen. Sturm! Regen gegen eine schwarze Felswand gepeitscht. Ein Berg… sein Gipfel verlor sich in grauem Nebel. Der Berg! Warum war sie bei diesem Wetter aufgebrochen? Die Bilder wurden klarer. Calya… ihre — Schwester! Mit ernster Miene deutete diese in den dunklen Himmel hinauf und sprach eindringlich auf sie ein. Was Calya sagte, konnte sie nicht verstehen. Nur ihre Lippen bewegten sich. In ihrem Blick lag Verständnis aber auch eine tiefe Besorgnis. Calya nickte ihr kurz zu, dann ging sie ihres Weges. Das Letzte was sie von ihr sah, war, wie sie sich die Haube des purpurnen Mantels überstreifte und hinter einer Wegbiegung verschwand.

Calya hatte wohl den leichteren Pfad über die Südflanke gewählt, während sie selbst die gefährlichere Route über die Ostflanke genommen hatte.

Eines Tages, wenn man sie hier unten finden sollte, würde man die Ostflanke vermutlich auf ‚Die Flanke des Todes‘ taufen - und dieses Loch ‚Gwenyphilias Spalte‘! Sie vernahm ihr heiseres Lachen, das in ein Husten überging.

Gwenyphilia erinnerte sich, dass sie in der Dunkelheit stundenlang nach ihrer großen Schwester gerufen und sich von dem Echo verhöhnt gefühlt hatte. Wo blieb nur Calya? Suchte sie noch nach ihr — oder hatte sie schon aufgegeben? Wie lange konnte man hier überleben?

Gwenyphilia bewegte den freien Fuß. Innerlich hörte sie das Knirschen von Knochen. Sie stöhnte, und ihre Kiefer pressten sich zusammen. Beide Füße waren also gebrochen! Selbst, wenn sie sich befreien konnte, hätte sie dann in ihren Armen noch genug Kraft, die senkrechte Felswand zu erklimmen? Sie müsste sich allein auf ihren Tastsinn verlassen. Und auf ihren Willen… Ja. Nun war sie sich sicher, dass sie es schaffen konnte.

Gwenyphilia hielt den Atem an. Mit aller Gewalt versuchte sie, den eingeklemmten Fuß ein winziges Stück zu drehen. Der schroffe Fels schnitt ihr tief ins Fleisch. In ihren Ohren rauschte das Blut; es knarrte und knackte. Für einen Moment, da war ihr, als sähe sie den velozianischen Nachthimmel. Alsbald verschwanden die  Sterne; schwer legte sich über sie ein dunkler Schleier.


Sie schreckte auf. Was war das? Ein Scharren…  Unter ihr. Dann ein hallendes Rascheln. Etwas näherte sich… Hier unten hatte sie schon manch merkwürdiges Geräusch gehört, wobei entferntes Donnergrollen und Klopfen nur die Harmlosesten gewesen waren. Aber diese nun? Ein Berggeist vielleicht… Oder etwa eine Felsennymphe? Letzteres könnte interessant werden… Sie vernahm das Klacken von in die Tiefe fallenden Steinen.

Das Etwas war nun so nah, dass sie dessen Atmen hören konnte. Ein rasselnder Atem, vereinzelt unterbrochen durch Schlucklaute. Wieder prasselten unter ihr Gesteinsbrocken. Ganz nah. Sie stellte sich schlafend.

Etwas streifte ihren eingeklemmten Fuß. Gwenyphilia öffnete die Augen — nur einen Spalt. Doch außer den Schemen, die aus Dunkelheit und Fantasie geboren wurden, konnte sie nichts erkennen.

„Elfenblut…“, knarrte eine ältliche Knabenstimme. „Blaues Blut! MmhEdles Blut!“

Etwas Haariges und Feuchtes glitt ihr über die Haut. Ihre Arme, ihr ganzer Körper versteifte sich. Der Atem des Wesens pfiff; es schluckte.

„Ich — ich hoffe, es mundet Euch!“, sagte sie; ihre Stimme klang ganz rau. „Elfenblut ist wahrhaftig ein einmaliger Genuss!“

Es oder vielmehr ‚er‘ antwortete nicht und labte sich weiter an ihrem Fuß. Zwei grüne Punkte leuchteten auf, verschwanden wieder, um abermals zu erscheinen. Längliche, senkrechte Pupillen… wie bei einer Katze oder vielmehr einer — Schlange. Die grünen Augen bewegten sich ein Stück auf sie zu und verengten sich zu Schlitzen.

„Doch das Blut der Elfin in Not, kannst genießen wie gezuckertes Brot“, sprach er und schluckte.

„Oh, ein Lyriker!“, sagte Gwenyphilia. „Wie reizend! Darf man wenigstens Euren Namen erfahren, bevor ihr mich gänzlich ausgesaugt habt?“

Der Knilch lachte leise: „Ach, der Namen hab‘ ich viele! Suchet Euch einen aus. Rasch! Wie im Spiele! Kombinieret dies und das! Doch wie gefallet Euch — Insidias?“

Dieses Bürschchen war listig! Wer so spontan des Reimens mächtig war… und er wusste um das Blut der Elfen. Offenbar handelte es sich um einen Felsenkobold. Entweder halfen sie einem, oder sie trieben ihren bösen Schabernack. Hier war sein kleines Reich. Er würde alles versuchen, Besitz von ihr zu ergreifen. Über ihren Körper und ihren Geist. Das war wahrhaftig eine absurde Vorstellung, wie Gwenyphilia fand. Sie fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis sie ihn ausgetrickst und für ihre eigenen Zwecke eingebunden hatte.

„Insidias… Hm. Einst hatte ich eine Katze mit diesem Namen!“, sagte sie und holte Luft. „Hat sich stranguliert. Das arme Tier!“

Der Kobold kicherte. „Tote Katze? Interessieret mich nicht. Doch was ist mit Eurem Gesicht? Sehet’s selbst, in diesem Licht!“

Sie kniff ihre Augen zusammen. Ein gleißend heller Schein! Selbst durch ihre geschlossenen Lider hindurch fand sie sich geblendet.

Irgendwann hatten sich ihre Augen an das Licht gewöhnt. Da sah sie die schwielige Hand eines Kobolds, über der ein leuchtender Kristall schwebte. Der Kristall hatte die Form eines Eies, und das Leuchten in seinen unzähligen Facetten war grau. Sie vermutete, dass es sich um einen seltenen Animaeus-Quarz handelte. Bewahrte der Kobold darin etwa die Seele eines Verstorbenen auf? Bestimmt hatten Zwerge den Stein für ihn gefertigt. Diese Winzlinge steckten doch alle unter einer Decke!

Gwenyphilia musterte seine Hand. Stark behaart war sie, die Fingernägel ganz schwarz und zerschrunden. Aus den Facetten des Kristalls heraus beobachteten sie unzählige grüne Augen. Der Kobold bewegte den Arm zur Seite und gab den Blick frei auf sein Gesicht. Er trug eine goldene Maske, die seine Augen und die Stirn komplett bedeckten. Unter der Maske ragte eine lange, grindige Nase hervor und ein bärtig eingefasster Mund, an dem ihr Blut schon zu verkrusten begann. Seine Haut schimmerte silbrig. Der Kerl kletterte auf ihren Bauch. Oh, wie er stank! Als sei die Quelle allen Moders allein auf diesem kleinen Körper vereint. Unverhohlen grinste er sie an. Kleine, scharfe Zähne, wie an einer Kette aufgereiht.

Was hatte er über ihr Gesicht geäußert?

„Sehet’s in diesem Licht!“, sagte er, als hätte er ihren Gedanken gelesen.

Das glatt polierte Metall von Insidias Maske zeigte ihr verzerrtes Spiegelbild. Sie beugte sich ein Stück vor und berührte ihre linke Gesichtshälfte. Was war mit ihrer Wange? Blut über Blut!

Der Kobold kicherte. „Ich sag es mal ganz unverfroren: Ihr habet das Gesicht verloren!“

Gwenyphilia griff sich den Knilch – vielmehr die Maske – und hielt sie direkt vor sich. Ihre Wange hing in Fetzen herab!…



Austern am Valentinstag


Die tief stehende Nachmittagssonne warf lange Schatten in das Pied dans l’eau. Monsieur Janic Valenthin blickte auf den zuckenden   Lichtfleck an der Wand, der durch sein Glas Muscadet ging.  Er richtete sich ein Stück auf. Leise knackten seine Knochen. Dann beugte er sich wieder vor und sah aus dem Fenster. Die Flut schob sich gerade unter die im Schlick liegenden Fischerboote. Schon bald würden die beiden Männer dort draußen, die jetzt in ihren Ölmänteln auf dem hellblau gestrichenen Bootskörper saßen und sich angeregt unterhielten, aufstehen und gehen.

  Vor Monsieur Valenthin stand ein Teller mit Marennes-Olérons. Wie immer auf zerhacktem Eis, der Tellerrand mit bräunlich-grünem Seetang garniert. Zwei Stückchen Zitrone. Die Austerngabel und ein winziger Dolch, wie üblich, auf  einem kleinen Extrateller, auf dem auch eine einzelne, noch geschlossene Auster lag. So wie es Monsieur Valenthin gewohnt war. So wie er es mochte. Valenthin schloss seine Augen. Er roch wieder den kleinen Weg zum Strand von La Turballe, das Meer, die eingeholten Netze, die Krebse in den alten Holzkisten…

   Der Wind trieb Wellen über das Wasser. Rauschen. Monsieur Valenthin atmete hörbar aus. Jetzt also Privatier … Das Auf und Ab der letzten Jahre. Finanzkrise, dubiose Geschäfte überall. Staatsanleihen. Die Unterwelt sollte wohl auch mitmischen, hatte man  ihm unter der Hand erzählt. Dann dieses Angebot aus dem Nahen Osten. Eine arabische Bank, mit einem Namen, den Janic noch nicht einmal aussprechen konnte. Den Rest hatten dann seine und deren Anwälte erledigt. Gut. Das war eben das Ende von Valenthin et Fils. Janic hatte sich sowieso nie so richtig als Bankier gefühlt. Das war einfach nicht sein Metier. Diese stupide Erbsenzählerei! Janic war der fils in Valenthin et Fils gewesen. Nicht mehr und nicht weniger. Seines Vaters Petit filou! Sein Traum aber war immer die Musik. Die großen Orchester! Oh ja, wie gern hätte er Geige gespielt! Komponiert! Damals.  … Ein verborgener, unerfüllter Traum.

    Der Stuhl gegenüber Janic war leer, aber es war kein Stuhl, der auf jemanden wartete. Er blieb einfach nur leer. Janic spürte den ansteigenden Druck in seinem Hals und sah angestrengt auf seine Marennes-Olérons. Er träufelte ein paar Tropfen Zitrone über eine der Austern. Nichts … Mit der Gabel piekte er direkt am Rand in das grünliche Fleisch. Dann endlich! Der Muskel zog sich, fast unmerklich, ein Stück vom Rand zurück. Janic piekte fester hinein. Die Reaktion wurde heftiger. Das Innere wurde eine sich vor Schmerzen windende Zunge. Janic löste routiniert das Fleisch aus der Schale. In seinem Mund entfaltete sich der salzige Geschmack des Meeres. Der Widerspruch von Fisch und Fleisch löste sich auf. Die Auster wand sich auf seiner Zunge wie ein quengelndes Kind, doch seinem Biss konnte sie sich nicht entziehen. Er schluckte die salzige Masse runter. Die leere Auster legte er auf den Schalenteller und griff sich gleich die nächste. Janic ließ seine Zunge nun über das glibberige Fleisch gleiten. Fischiger Geruch stieg in seine Nase. Er lutschte, ließ das belebende Salzwasser seine Kehle runter rinnen. Sein Blick fiel wieder auf den leeren Stuhl. Druck in seinem Hals. Schnell schluckte er runter, griff sich die nächste Auster. Janic schloss seine Augen und dachte an sie. Eleonore…



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